Lukas Potsch | Rezension |

Staat zerstören, um Staat zu schaffen

Rezension zu „Über den Bürgerkrieg“ von Michael Riekenberg

Michael Riekenberg:
Über den Bürgerkrieg
Deutschland
Hannover 2021: Wehrhahn
152 S., 14,00 EUR
ISBN 978-3-86525-853-3

Michael Riekenberg, emeritierter Professor für vergleichende und lateinamerikanische Geschichte, bezeichnet sein Buch Über den Bürgerkrieg als „historischen Essay“ (S. 11). Auch wenn er mit diesem Terminus „keine literarische Qualität“ (ebd.) beansprucht, ist die Gattungsbezeichnung treffend, begreift man den Essay als eine Form, die „experimentelles Schreiben“[1] ermöglicht. Denn Riekenberg experimentiert in seinem Büchlein: verschiedenste Theorieelemente aus der (politischen) Anthropologie, Psychoanalyse und Soziologie werden auf (Bürger-)Kriegssituationen – im Regenwald des Amazonas, in der griechischen Antike und in der Gegenwart – angewandt, um sich dem Phänomen anzunähern. Ein „historische[r] Essay“ (ebd., Herv. LP) ist Riekenbergs Buch trotzdem nur bedingt. Zwar nutzt er historische Beispiele als Ausgangspunkt. Das Buch ist aber weniger eine Geschichte des Bürgerkriegs als ein „Versuch zu seiner Theoretisierung“ (S. 76). Auch dabei ist Riekenbergs Zugang essayistisch, insofern der Text auf die „bündige Ableitung zugunsten von Querverbindungen der Elemente“[2] verzichtet. Eine Rekapitulation des Inhalts hat sich daher auch stärker an solchen Verbindungen als an der, im Vergleich dazu eher oberflächlichen, Strukturierung durch Kapitel zu orientieren.

Bürgerkrieg kann es nur dort geben, wo – anders als im Regenwald – ein Staat existiert.

Riekenbergs bevorzugte Methode ist der Vergleich (vgl. S. 24, 36, 100). Für das Buch zentral ist der Bezug, den der Autor zwischen dem „tribalen Krieg“ (S. 31) der Gesellschaften im amazonischen Regenwald und der stasis – dem „historischen Anfang“ (S. 34) des Bürgerkriegs in der antiken polis – herstellt. Unter Rückgriff auf Anthropologen wie Philipp Descola oder Pierre Clastres skizziert er das System aus „Balance und Symmetrie“ (S. 25), in das die Gewalt in den amazonischen Gesellschaften eingebettet ist. Das „Verwandtschaftsprinzip“ (S. 27), das im animistischen Denken die Welt strukturiere, gelte auch für die Gewalt: Sie müsse sich immer als Teil eines sinnvollen Ganzen ausweisen. Damit sei sie Ausdruck des „Perspektivismus“ (S. 29) dieser Gesellschaften, also des Glaubens, dass nur der andere das eigene Selbst vervollständigen könne. „Wachstum, Ganzwerdung, Vervollkommnung, Identitätsausbildung“ (ebd.) seien aber auch Ziel des Kriegs, weil er um der Bewahrung der einzelnen Gemeinwesen willen und gegen deren Auflösung im Staat als einer überwölbenden politischen Struktur geführt werde. Der tribale Krieg sei – mit Clastres[3] – ein „Krieg gegen den Staat“, der die „Zerstreuung“ (S. 32) der einzelnen Gemeinwesen sichern soll. In der stasis liege die Sache hingegen anders, da sie selbst einen politischen Zusammenschluss darstelle. Zwar sei ihr, gleich dem tribalen Krieg, eine „zentrifugale, die Einheit auflösende Komponente“ (S. 33) zu eigen, sie bleibe aber stets auf die Herstellung einer neuen politischen Einheit, eines (vom Feind gesäuberten) Staats gerichtet. Die Gewalt der stasis sei damit – und im fundamentalen Gegensatz zum tribalen Krieg – ein Vorgang des „Zerreißen[s]“ (S. 36), eine eminent anti-perspektivistische „schroffe Abwendung vom Anderen“ (S. 35). Weil es Bürgerkrieg aber nur dort geben könne, wo – anders als im Regenwald – ein Staat existiere (vgl. S. 23, 76), sei die stasis auch kein Krieg gegen den Staat, sondern, „sowohl der Beschleuniger wie der höchste Ausdruck der politischen Gewalttat“ (S. 45). Die „Paradoxie des Bürgerkriegs“ (S. 139) liege also in seinem Verhältnis zur politischen Organisationsform Staat: Er will Staat zerstören, um Staat zu schaffen.

An der stasis arbeitet Riekenberg auch die „besondere Gefühlslage“ (S. 20) heraus, die im Zentrum einer Theorie des Bürgerkriegs stehen müsse.[4] Sie liege in dem den Bürgerkrieg begleitenden Trennungsvorgang begründet: Die Konfliktparteien, zwischen denen vormals Nähe herrschte, müssten diese Verbundenheit im Zuge eines „Kompensationsmechanismus“ (S. 49) durch besondere Intensivierung feindschaftlicher Gefühle auflösen. So verändere der Bürgerkrieg die „Existenz und Identität aller Teilnehmer“ (39, Herv. i. Orig.), was ihn zu einem heiklen psychologischen Vorgang mache. Eine „Falle der Bürgerkriegsbetrachtung“ (S. 103) bestehe dann auch darin, seine Spezifik nicht in seiner psychologischen Dimension, sondern in den Gewalttaten selbst zu verorten. Die mit diesem Fehlschluss einhergehende „Überzeichnung des Gegenstands“ (S. 16) sei Produkt eines Narrativs, das sich um das klassische Völkerrecht zentriere. Da aber keine Gewaltform ausschließlich in Bürgerkriegen zu beobachten sei, würde diese Erzählung der Wirklichkeit nicht gerecht (vgl. S. 19).

Riekenberg, das wird an dieser Kritik deutlich, geht es also nicht darum, den Niederschlag von Bürgerkriegen in verschiedenen, politischen, juristischen oder literarischen Diskursen nachzuzeichnen, wie es kürzlich etwa David Armitage versucht hat.[5] Er zielt auf eine Theoretisierung des eigentlichen Bürgerkriegsgeschehens, womit er sowohl in die Nähe von politisch-philosophischen[6] als auch von mikrosoziologischen[7] Überlegungen zum Bürgerkrieg rückt.

Zudem bemüht sich Riekenberg, ebenfalls mittels der Methode des Vergleichs, um eine Schärfung seines Bürgerkriegsbegriffs. Durch Kontrastierung mit Phänomenen wie der Revolution (S. 54, 60 f.), der Sezession (S. 65 f.) oder der Neuen Kriege (S. 70 ff.) versucht Riekenberg, die Eigenheiten des Bürgerkriegs herauszuarbeiten. Beispielsweise resultiere der besondere „Zeitfaktor“ (S. 60, Herv. i. Orig.) des Bürgerkriegs aus dem ihm zugrundeliegenden Kräftegleichgewicht: Anders als etwa beim Putsch, in dem, zumindest idealtypisch, eine Seite die militärische Macht auf sich vereinen könne und der Kampf so nach relativ kurzer Zeit entschieden und damit vorüber sei, komme es bei ähnlicher Stärke der Parteien zu einer „Ausdehnung“ (S. 62) des Gewaltgeschehens.

Die Konfrontation von zwei annährend gleich starken Parteien begünstigt eine Dynamik, die sich durch Polarisierung und Rücksichtslosigkeit in der Konfrontation auszeichnet.

Die spezifische Konfliktdynamik des Bürgerkriegs arbeitet der Autor unter anderem durch einen Vergleich mit dem sogenannten „segmentären Krieg“ (S. 86)[8] heraus. Dieser beschreibt das Aufeinandertreffen einer Vielzahl kleiner „Organisationskreise der Gewalt“ (S. 85) in einem „Vakuum staatlicher Herrschaft“ (S. 76) und war im Süd- und Mittelamerika des 19. Jahrhunderts zu finden. Riekenberg zeigt, dass der Bürgerkrieg, anders als der segmentäre Krieg, in dem die Akteure aufgrund der Pluralität der Parteien zu Abwägungen und Rücksichtname gezwungen seien, durch eine „dyadische Beziehung“ (S. 115, Herv. i. Orig.) gekennzeichnet sei. Diese Konfrontation von zwei annährend gleich starken Parteien begünstige eine Dynamik, die sich durch Polarisierung und Rücksichtslosigkeit in der Konfrontation auszeichne. Derlei Überlegungen, die versuchen, die innere Logik des Bürgerkriegsbegriffs aufzuschlüsseln, gehören zu den gelungensten Teilen des Buches. Das komparatistische Vorgehen ermöglicht es Riekenberg, die Spezifik des Bürgerkriegs einzugrenzen, ohne seine Gemeinsamkeiten mit anderen Gewaltphänomenen durch äußerliche Definitionskriterien zu unterschlagen.

Auffallend ist, dass Riekenberg auch ausführliche Überlegungen zu Prozessen anstellt, die einem Bürgerkrieg vorausgehen. Das hat einerseits einen systematischen Grund. Da sich der Bürgerkrieg zwischen Menschen abspielt, die zuvor einvernehmlich zusammenlebten, muss eine Theorie des Bürgerkriegs erklären, wie sich der Übergang vom Frieden zum Krieg vollzieht. Riekenberg beschreibt diese Transformation als „Zeit der Verhärtung“ (S. 131), in der sich gesellschaftliche Konflikte zu einem fundamentalen Dualismus zuspitzten (S. 128 ff.). Im Zuge dieser „Lagerbildung“ (S. 99) werde die andere Seite – etwa mittels rassistischer oder ideologischer Argumentationen – delegitimiert und die eigene Position durch ein „Gefühl[] der Höherwertigkeit“ (S. 124) bestärkt. In dieser Phase sei nicht der Feind, sondern der Störer die „typische Bürgerkriegsfigur“ (S. 111, Herv. i. Orig.) und der Bürgerkrieg selbst die „radikalste Form“ (S. 115), in der der Ausschluss des Störers, als der Personifikation innerer Bedrohung, vollzogen werden könne. In solchen Überlegungen schimmern andererseits aber auch gegenwartsdiagnostische Absichten durch. Schon im Klappentext führt der Autor die Verschärfung innenpolitischer Gegensätze als „Anstoß“ für seine Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg an. Als Historiker, der zwar keine „Prognosen“ abgeben, wohl aber „Muster […], denen wir entnehmen können, wann Bürgerkriege wahrscheinlich werden“ (S. 135) aufzeigen möchte, warnt Riekenberg beispielsweise davor, dass die Delegitimation des Störers sich im 21. Jahrhundert nicht mehr im Namen von Rassismus oder politischer Ideologie, sondern durch Berufung auf die eigene moralische Überlegenheit vollziehen könnte (vgl. S. 124).

Angesichts der oft kleinteiligen sozialwissenschaftlichen Bürgerkriegsforschung, welche die Komplexität des Bürgerkriegsbegriff zugunsten seiner Operationalisierbarkeit opfert, ist Riekenbergs Buch eine Wohltat. Deutlich wird auch der begrüßenswerte und bereits an anderer Stelle formulierte Anspruch, der jüngeren, mit den Schlagworten ‚dichte Beschreibung‘ und ‚Gewalträume‘ verbundenen Gewaltsoziologie neue theoretische Impulse zu geben.[9] Zuweilen gerät dieser theoretische Anspruch jedoch in Konflikt mit dem „Stückhaften“[10] der essayistischen Form. Dann laufen die konzisen Beobachtungen zur Logik des Bürgerkriegs Gefahr, zwischen Theoriereferaten zu verschwinden und der Text wirkt überfrachtet. Die komplexen Ausführungen zur Kosmologie des Regenwaldes beispielsweise schlägt man daher besser in anderen Werken des Autors nach, wo ihnen mehr Raum beigemessen wird.[11]

Dort, wo die essayistische Form durchgehalten, Beobachtungen pointiert und klar geschildert oder Fragen bewusst offengelassen werden, entfaltet der Text hingegen seine Stärke, indem er den/die Leser/in regelrecht zwingt, über das Geschriebene hinauszugehen, es weiter zu denken. Zwei Punkte seien hier nur kurz angerissen: Erstens stellt sich die Frage, ob die stasis tatsächlich als „Urform“ (S. 55) des Bürgerkriegs gelten kann, bezeichnet der Begriff doch auch den Krieg zwischen den poleis.[12] Eine klare Unterscheidung zwischen äußerem Staatenkrieg und innerem Bürgerkrieg dürfte wohl erst im Zuge der Ausbildung von Territorialstaaten und den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts möglich geworden sein. Zweitens ließe sich der angedeutete Zusammenhang von Bürgerkrieg und dem Politischen vertiefen. Zwar läuft Riekenberg gelegentlich Gefahr, das Politische auf die Kontrolle des staatlichen Machtapparats zu reduzieren (vgl. S. 55), er deutet aber auch an, dass der Bürgerkrieg gerade durch seine gemeinschaftsstiftende und identitätsbildende Funktion ein eminent politisches Phänomen sei. Es dürfte dieses Versprechen einer „Schicksalsgemeinschaft“ (S. 125) – so Riekenberg mit Max Weber – sein, welches den Bürgerkrieg trotz des Schreckens, den er mit sich bringt, auch in Zukunft nicht verschwinden lassen wird.

  1. Max Bense, Über den Essay und seine Prosa, in: Merkur 1 (1947), 3, S. 414–424, hier S. 417.
  2. Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1990, S. 9–33, hier S. 31.
  3. Vgl. Pierre Clastres, Archäologie der Gewalt, Zürich/Berlin 2008, S. 81.
  4. Vgl. zu dieser affektiven Dimension des Bürgerkriegs: Russel Jacoby, Bloodlust. On the Roots of Violence from Cain and Abel to the Present, New York/London/Toronto/Sydney 2011, insbes. S. 35 ff.
  5. David Armitage, Bürgerkrieg. Vom Wesen innerstaatlicher Konflikte, Stuttgart 2018.
  6. Giorgio Agambens, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt am Main 2015.
  7. Stathis N. Kalyvas, The Logic of Violence in Civil Wars, Cambridge 2006.
  8. Vgl. Michael Riekenberg, Gewaltsegmente. Über einen Ausschnitt der Gewalt in Lateinamerika, Leipzig 2003.
  9. Vgl. Michael Riekenberg, Gewalt. Eine Ontologie, Frankfurt am Main / New York 2019, S. 11–14.
  10. Adorno, Der Essay als Form, S. 17.
  11. Vgl. Riekenberg, Gewalt, S. 45 ff.
  12. Vgl. Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 10. Aufl., Frankfurt am Main 2017, S. 211–259. hier S. 219 f.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gewalt Politik Staat / Nation

Lukas Potsch

Lukas Potsch studierte unter anderem Staatswissenschaft und Soziologie in Passau und Freiburg. Derzeit beschäftigt er sich im Rahmen seiner Dissertation mit dem Zusammenhang von Bürgerkrieg und dem Politischen.

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